Organisationen brauchen auch pfiffige Faule
Diesen Sommer hat unser Sohn sein Abitur bestanden. Als Vater hat mich das natürlich sehr gefreut und stolz gemacht. Und unweigerlich hat mich dieses Ereignis an meine eigene Abiturprüfungen und meine damaligen Mitschüler erinnert. Und einer davon ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Nennen wir ihn Horst.
Ein Gipsarm hilft zum Abitur
Horst bestach nicht durch Fleiß. Auch nicht durch übermäßigen Intellekt. Er bestach durch … Sympathie und Schlitzohrigkeit. In der elften Klasse stand die letzte Lateinklausur an. Er brauchte mindestens eine fünf um zur Kollegstufe vorgelassen zu werden. Dabei wusste er, dass seine Chancen dafür gegen Null strebten. Was tun? Büffeln, Tag und Nacht? Er entschied sich für eine andere Strategie. Er überzeugte seinen Hausarzt, dass er doch so starke Schmerzen an seiner rechten Schreibhand habe, sich irgendwas dort verstaucht oder gebrochen habe, so dass der Arzt dem Horst den rechten Arm in Gips legte. Der Rest ist Geschichte. Horst konnte und musste die letzte Lateinklausur seines Lebens nicht mitschreiben, er rückte in die Kollegstufe vor, machte sein Abitur. Danach verloren wir uns aus den Augen.
Mut, Dinge nicht zu tun
Beim letzten Klassentreffen durfte ich Horst wieder treffen. Er hatte Lehramt studiert und danach seinen Kurs gewechselt: er ist Unternehmer, führt seinen Spargelgroßhandel, betreibt eigene Himbeerplantagen, und.. und… und. Er erzählte mit Genuss – ohne dabei anzugeben – , wie er monatelang im Winter die Beine hochlegt oder mit seinen Kindern im eigenen Keller-Bolzplatz Fußball spielt und sich um Dinge kümmert, die ihm wertvoll und wichtig sind. Er wägt ab, welches Risiko er eingeht, wenn er bestimmte Dinge nicht tut. Und trifft dann eine Entscheidung. Er hat immer wieder den Mut, Dinge nicht zu tun, die ihm nicht wertvoll oder wichtig erscheinen. Er hat keine Yacht, wirkte dennoch auf mich sehr ausgeglichen und zufrieden. Warum schreibe ich diese Geschichte?
Stimmt die Schriftgröße?
Ich wünsche mir für unsere Unternehmen mehr von diesen „ich weiß worauf es ankommt“-Typen. Auch als Chefs. Typen, die den Mut haben, Dinge, welche zwar vielleicht interessant, aber nicht wirklich wichtig oder wertschaffend sind, zu streichen. Wegzulassen. Kalkulierte Risiken eingehen. Nicht perfekt zu sein, wo Perfektion nicht gefordert ist. Wie viel besser wird die anstehende Entscheidung denn wirklich, wenn diese oder jene zusätzliche und aufwändige Analyse noch gemacht wird? Wie groß ist das mögliche Risiko wirklich, wenn ich mit meiner Erfahrung eine Bauchentscheidung treffe, ohne alle verfügbaren Marktstudien einzukaufen und durchzuackern? Spielt es wirklich eine Rolle, ob bei der Wachstums-Prognose für das Jahr 2025 die Zahlen auf Seite drei einer Präsentation auf die Nachkommastellen genau konsistent sind mit denen auf der Seite 36? Oder noch schlimmer: stimmt die Schriftgröße überein?
Wird das Unternehmen dadurch wertvoller?
Unternehmen, die Ergebnisprobleme haben, machen häufig den gleichen Fehler: sie tun zu viele Dinge, für die sie ihre Kunden nicht bezahlen. Vielleicht sind das zwar Dinge, die der Chef will. Vielleicht sind das Auswertungen, die schon in voreilendem Gehorsam gemacht werden, weil ja jemand im Management danach fragen könnte und ich dadurch meine Karriere-Chancen für die nächste Beförderung verbessere. Vielleicht auch nur die Art wie wir Leistung bewerten und Betriebsamkeit und Überstunden mehr auffallen als Effizienz. Gründe gibt es viele für wertlose Aktivitäten. Wertvoller wird ein Unternehmen dadurch nicht.
Organisationen brauchen pfiffige „Faule“
Ich wünsche unseren Organisationen mehr Chefs und Mitarbeiter, die ab und zu faul sind und dabei die Pfiffigkeit haben, die Dinge zum Abschluss zu bringen, die wirklich wichtig und wertschaffend sind. Vielleicht sollten wir ja ab und zu, gerade wenn die tägliche Betriebsamkeit überhand nimmt, die Beine ein wenig hochlegen und genau darüber nachdenken: was von dem, was uns den Tag füllt, ist nur beschäftigungs-therapeutisch wertvoll, und was dagegen macht ein Unternehmen wirklich wertvoller? Um dann – mit kalkuliertem Risiko – bestimmte Dinge einfach nicht zu tun, oder ganz anders zu tun.
Sich trauen, einfache Wege zu suchen
Liebe Beförderungsentscheider: trauen Sie sich doch auch mal ab und zu über das klassische Beuteschema für Führungskräfte hinweg zu springen. Unternehmen brauchen nicht nur gut strukturierte, fleißige Manager und Mitarbeiter, deren einzige Doktrin ist, dass Erfolg nur im Alphabet vor Fleiß steht. Organisationen brauchen auch pfiffige „Faule“, die querdenken, die sich trauen, den Status-Quo zu hinterfragen und einfachere Wege zu suchen. Typen wie Horst eben.